50-jähriges Jubiläum

Einladung zum Senatsempfang, zur Ehrung des 50-jährigen bestehens „Rettet die Deichstraße“

Senatsempfang 50 Jahre „Rettet die Deichstraße e.V.“

Rede des Senator der Behörde für Kultur und Medien, Dr. Carsten Brosda
20. April 2022

Sehr geehrte Frau Kiausch, Sehr geehrter Herr Schau, sehr geehrter Herr Hirschfeld, sehr geehrte Stiftungsmitglieder, und meine sehr geehrten Damen und Herren,
„Die Erde ist bekanntlich ein Trümmerhaufen vergangener Zukunft, und die Menschheit die bunt zusammengewürfelte, sich streitende Erbengemeinschaft einer numinosen Vorzeit, die fortwährend angeeignet und umgestaltet, verworfen und zerstört, ignoriert und verdrängt werden muss, so dass entgegen landläufiger Annahme nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit den wahren Möglichkeitsraum darstellt.“ So heißt es an einer Stelle in dem Buch „Verzeichnis einiger Verluste“ von Judith Schalansky. Und an wieder anderer Stelle: „Letztlich ist alles, was noch da ist, schlichtweg das, was noch übrig geblieben ist.“

Nun, es gibt weitaus fröhlichere Einstiege für ein Grußwort an einem Mittwochmorgen und den Beginn eines Senatsempfangs, so viel ist klar. Doch diese Sätze haben es in sich. Denn leider sind sie gefährlich aktuell. Die verheerenden Folgen des andauernden Angriffskriegs Putins auf die Ukraine, sind medial allerorts sichtbar. Dass die Vergangenheit einen Möglichkeitsraum darstellt, in dem Sinne, als dass es möglich ist, sie auch baulich zu zerstören, auch das sehen wir dieser Tage erschreckend deutlich. Insofern geht es gerade jetzt auch um die Vergegenwärtigung, dass sich Vergangenheit weder umschreiben noch umdeuten lässt. Vielmehr kommt es darauf an, von ihr in der Gegenwart zu erzählen. Baudenkmäler sind dabei wesentlicher materieller Ausdruck von kultureller Identität.

Meine Damen und Herren, die windschiefen althamburgischen Kaufmanns- und Bürgerhäuser auf dem ehemaligen Deich am Nikolaifleet, gebaut im 17. und 18. Jahrhundert, haben ihrerseits mehrere „Beinahe-Havarien“ überstanden: Den verheerenden „Großen Brand“, der seinen Ursprung am 5. Mai 1842 ausgerechnet in der Deichstraße hatte und große Teile Hamburgs in Schutt und Asche legte, den ersten Weltkrieg, den zweiten Weltkrieg und auch den darauf folgenden Neubau-Boom in den Städten über den Margarete und Alexander Mitscherlich unverblümt in ihrem Buch „Die Unwirtlichkeit der Städte“ geschrieben haben. „Letztlich ist alles, was noch da ist, schlichtweg das, was noch übrig geblieben ist“…

Vor dem Abriss historischer Bausubstanz wurde in großem Stil keinen Halt gemacht. Der Wiederaufbau der Städte, mit seinem Vorrang für verkehrstechnische Belange sowie für Industrie und Wirtschaft insgesamt, rief allerdings auch zunehmend gesellschaftlichen Widerstand hervor. Das Bewusstsein für den Wert des baukulturellen Erbes wuchs, die Forderung nach einer menschen- und umweltfreundlichen Stadtplanung, die die Einbindung von Altsubstanz berücksichtigt und die historische Baukultur bewahrt, wurde lauter. Einige Bundesländer erhielten in der Folge jetzt erst ein Denkmalschutzgesetz. Hamburg hingegen hatte sein Gesetz schon seit 1921. Diese Gegenbewegung zum Neubau-Boom mündete 1975 im europäischen Denkmalschutzjahr. Das Motto „Eine Zukunft für unsere Vergangenheit“, als Reaktion auf die schmerzlichen Verlusterfahrungen am kulturellen Erbe, konnte trefflicher nicht gewählt sein. Ein Ziel war es, ein Bewusstsein für die Unverwechselbarkeit der Kulturlandschaften Europas zu wecken.

Die Geschichte des Widerstands gegen rücksichtslose städtebauliche Planung ist auch die Geschichte des Vereins Rettet die Deichstraße e.V. So sollten in den 1970er Jahren auch die markanten Häuser der Deichstraße aus dem Hamburger Stadtbild verschwinden und einer radikalen autogerechten Stadtplanung weichen. Die direkt am Wasser stehenden Giebelhäuser aber trotzten dem Abriss. Oder vielmehr trotzten ihm engagierte Bürgerinnen und Bürger: namentlich unsere heutigen Jubilare. Ich freue mich außerordentlich über die Gelegenheit, mich heute bei den Menschen zu bedanken, die es sich bereits vor fünfzig Jahren wie auch heute zur Aufgabe gemacht haben, einen ganz besonders architektonisch und kulturhistorisch wertvollen Teil der Hamburger Baukultur zu schützen und für nachfolgende Generationen zu bewahren. 1972 gründete sich der Verein „Rettet die Deichstraße“, heute ist er eine Stiftung. Nachdem einige Häuser in der Deichstraße damals bereits abgerissen wurden, verhinderte er den Abriss weiterer historischer Bausubstanz.

Bis heute setzt sich die Stiftung für den Erhalt der historischen Bauten ein und bietet uns so einen Ort im Herzen Hamburgs, an dem wir Anknüpfungspunkte zur Geschichte der Stadt und ihrer Bewohnerinnen und Bewohner finden. Seit mehr als 700 Jahren wohnen und arbeiten Menschen in der Deichstraße. Unter anderem Ole von Beust hat hier gewohnt und auch Herr Schau, wie mir zu Ohren kam… Heute steht das Ensemble der sieben Häuser, das der Deichstraße ihr individuelles Gesicht verleiht, unter Denkmalschutz. Zur Straßenseite hin präsentieren sich die Häuser mit repräsentativer Fassade, zum Nikolaifleet hin kann man ihre Speicherfunktion noch eindeutig erkennen. Nicht nur bei Touristinnen und Touristen, sondern auch bei den Hamburgerinnen und Hamburgern ist die Deichstraße ein beliebtes Ziel, um in die Geschichte Hamburgs einzutauchen und/oder die vielfältigen gastronomischen Angebote zu nutzen. So geht lebendige Denkmalpflege!

Denkmalschutz, auch das zeigt uns die Deichstraße eindrucksvoll, ist eine gemeinschaftliche Aufgabe, die nur gelingen kann, wenn verschiedene Akteurinnen und Akteure, Politik und Initiativen zusammenarbeiten. Dabei beeindruckt mich, als „zugewanderter Hamburger“ das bürgerliche Engagement der Hamburgerinnen und Hamburger immer wieder. Die Stiftung „Rettet die Deichstraße“ lässt uns auf Spurensuche gehen. Manche reichen sehr weit zurück, andere nicht ganz so weit. So möchte ich an dieser Stelle nicht ausschließlich auf die historische Bausubstanz des 17. und 18. Jahrhunderts in der Deichstraße eingehen, sondern auch auf jüngere Baukultur in der Straße, die Bezug nimmt auf Formen und Strukturen der Architektur aus der Vergangenheit. So geschehen mit dem Bau des Gebäudes Deichstraße 35, das 1977 durch ein Feuer komplett zerstört wurde, 1978 vom Verein gekauft und neu aufgebaut und 1982 als „Bauwerk des Jahres“ vom Architekten- und Ingenieurverein ausgezeichnet. Aufgegriffen wurde die Architektur der althamburgischen Bürgerhäuser in unmittelbarer Nachbarschaft, gebaut wurde mit Backstein, dem traditionsreichen Baumaterial Hamburgs. Ein gelungenes Beispiel für behutsame Stadtreparatur.

Die Arbeit der Stiftung erschöpft sich also nicht in der Rettung der historischen Bausubstanz – was für sich genommen natürlich schon ein enormer zivilgesellschaftlicher Dienst gewesen ist –, sondern die Stiftung verbindet darüber hinaus den architekturhistorischen Eindruck der Deichstraße insgesamt. Und genau für diese städtebauliche Aufgabe, Altes mit Neuem zu verbinden, wurde der Verein 1985 auch mit dem Deutschen Städtebaupreis ausgezeichnet.

Meine Damen und Herren, „Baudenkmale“, so schrieb der Denkmalpfleger und frühere Landeskonservator Schleswig-Holsteins, Hartwig Beseler, in den 1970ern, „sind nicht nur gute Indikatoren für das kulturelle Verantwortungsbewusstsein einer Generation, sondern auch nützliche Provokateure angemessener Neubebauung für morgen. Und so verstanden ist Denkmalschutz eine Überlebensfrage“. Damit hat er Recht. Denkmalschutz ist eine Überlebensfrage. Dabei geht es zum einen ganz praktisch um Umweltschutz und damit Klimaschutz. Und zum anderen um den Erhalt einer vielfältigen städtebaulichen Ästhetik. Vergangenheit und Gegenwart gehören wie Plus und Minus zueinander. Die Stiftung „Rettet die Deichstraße“ bringt sie zusammen und sichert gerade dadurch die Schönheit und die Zukunft unserer Stadt.

Dafür möchte ich mich herzlich bei allen bedanken, die Verein und Stiftung gegründet und über die Jahre begleitet haben. Herzlichen Dank und alles Gute zum 50. Jubiläum. Auf die nächsten 50!

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Mittagessen im Haus 37